Ein Jahr Ein Rad

Letzten Mittwoch vor einem Jahr brachte die Post mein Einrad 1. Für mich begann etwas komplett Neues - ich hatte vorher nie auch nur annähernd Ähnliches gekonnt oder versucht. Als älterer Nerd ohne jede sportliche Ambition in den vergangenen 40 Jahren sage ich heute: Einrad fahren zu lernen war meine coolste Entdeckung seit langem! Vielleicht sogar: Einradfahren ist eine ideale Nerd-Sportart.

Angefangen hatte die Geschichte einige Wochen zuvor, an der letzten vor-pandemischen Critical Mass in Zürich im Februar 2020. Da fuhr eine junge Frau so selbstverständlich auf dem Einrad im Umzug mit, dass ich das erste Mal ein Einrad auch als potentielles Alltagsvehikel wahrgenommen habe, und nicht wie bislang nur als Akrobatik-Gerät.

Der organisierte Schulsport in meiner Jugend hatte für nicht supersportliche Menschen ausser Demütigung nicht viel zu bieten, und hat nachhaltig dafür gesorgt, dass ich mich definitv als Bewegungs-Versager eingeordnet hatte. Allen Sport, inbesondere kompetitiver Art und in Gruppen, habe ich nach Schulende aktiv und bis heute gemieden. Ich habe genügend andere Interessen, um die Zeit rumzubringen (eben: Nerd), und mit Alltagsradfahren über die Jahre doch halbwegs ausreichend Bewegung.

Doch die Idee, ein so minimimales Fahrzeug (knapp 5kg) vielleicht dereinst im Alltag zu nutzen, hat mich nicht mehr losgelassen. Tatsächlich zu beschliessen, das zu auch zu tun, hat eine Weile gebraucht. Einerseits zur Auswahl eines passenden Einrads 2, aber im Besonderen auch musste ich mir erst konkret ausdenken, wie und wo ich das überhaupt lernen kann. Da kam das Jugendsport-Trauma und der generelle Nerd-Mindset zusammen: In einen Kurs oder Club zu gehen (was sicher keine schlechte Idee wäre, wenn man da unbelastet ist) kam nicht in Frage. Hingegen die Challenge, das selber auszuknobeln, war reizvoll. Zumal in meinem Alter das Ganze sicher länger dauern würde, als bei Kindern und Jugendlichen - diese lernen die Basics offenbar in ein paar Wochen. Für mich würde es Monate dauern, das war klar.

Die einschlägigen Howto-Seiten empfehlen erstes Üben an einem Geländer. Aber wo gibts eines , das für die allerersten Versuche in Ruhe geeignet wäre? Die Frage hat mich ein paar Wochen aufgehalten, bis mir unser grosser Dachboden in den Sinn kam. Mit etwas (eh längst fälligem) Aufräumen waren ein paar m2 freigelegt, und die dort gelagerten Matratzenstapel konnten als Puffer dienen. Eine 4m lange Holzlatte handtauglich geschliffen und am Gebälk angeschraubt, und schon hatte ich mein Privatgeländer.

Es hat gute Dienste geleistet, um die ersten 2 Pedalumdrehungen zu üben. Das habe ich anfangs fast jeden Tag ein- oder zweimal je 10min gemacht. Kleinste Fortschritte machten schon grosse Freude, weil es zwar sehr zaghaftes, doch eindeutiges Betreten von Neuland war.

Das Interessanteste an der ganzen Erfahrung, bis heute, ist aber die Beobachtung des eigenen Lernens. Gerade weil es mit einem älteren, komplett gleichgewichts-untrainierten Hirn nur langsam geht - umso deutlicher spürte ich, wie das vor sich geht. Ganz speziell, dass es keineswegs linear läuft. Erste Fortschritte reizen einem dazu, länger und mehr zu üben, um schneller vorwärts zu kommen. Aber so funktioniert das nicht! Der eigentliche Fortschritt, eine Art Einsickern geschieht in den Pausen, und buchstäblich über Nacht. Natürlich wusste ich das vorher, das kann man ja überall lesen, aber so unmittelbar erfahren ist etwas ganz Anderes!

Das Gleichgewicht ist logischerweise einer der Hauptgewinne vom Einradfahren. Anfangs lagen da meine grössten Bedenken - so ungeschickt wie ich in Gleichgewichtssachen bisher war. Rollschuhe, Schlittschuhe, Skateboard, etc. - nichts davon glückte mir zu Schulzeiten einfach so, wie es anderen scheinbar gelang. Klar, ich hatte damals auch rein gar nichts investiert, um es vielleicht doch zu lernen. Aber würde es jetzt, 40 Jahre später, möglich sein, diese nicht-triviale Gleichgewichtsaufgabe dennoch zu meistern? Nun, die Antwort lautet: ja! Es brauchte Zeit und Geduld, aber zu erleben, dass es tatsächlich geht, ist fantastisch! Und ist auch im Alltag deutlich spürbar - alles was mit Gleichgewicht zu tun hat, geht jetzt viel besser.

Nach ca. zwei Monaten Dachboden traute ich mich dann im Juni erstmals raus. Nicht weit gibts eine Fussgängerbrücke mit durchgehendem, glattem Handlauf. Gegen Abend war es da ziemlich ruhig (u.a. weil 2020...) und ich konnte da alle paar Tage üben. Bald gabs kurze, glückliche Momente von "Fahren", auch wenns anfangs nur einige freie Radumdrehungen waren - auf dem Dachboden war das noch nicht möglich.

Das Einradfahren geht am Anfang furchtbar in die Beine, denn quasi stehend auf den Pedalen zu balancieren versuchen, statt richtig zu sitzen, ist offenbar naheliegend für Neulinge. Weit kommt man so aber nicht, es ist viel zu anstrengend. Und sobald die Beine auch nur ein wenig müde werden, und die Bewegungen nicht mehr so präzise sind, ist es schnell aus mit Gleichgewicht halten. Erst viel später gelingt es, wirklich im Sattel zu sitzen und locker(er) zu treten.

Ganz super am Einrad ist, dass es so ziemlich den ganzen Körper fordert, insbesondere auch den Rumpf - je besser man's kann, desto mehr hält man das Gleichgewicht damit und nicht mehr mit den Beinen. Das ist für einen mehrheitlichen Schreibtischtäter eine sehr gute Abwechslung und tut rundum gut.

Irgendwann im September schaffte ich dann ganze Brückenlängen (~40m) ohne Hand am Geländer, im Oktober dann bereits das erstemal ins Büro (~3.5km), 50% zu Fuss, 50% Einrad in Stücken von jeweils 100-200m, in den folgenden Wochen dasselbe noch ein paar mal, mit langsam wachsenden Einrad-Strecken.

Wetter, Winter, Weihnacht haben dann etwas mehr und längere Pausen gebracht, in denen ich das Einradfahren schon ziemlich vermisst habe.

Aber nach dem grossen Schnee im Januar gabs dann wieder mehr Gelegenheiten wieder zu üben - nicht jedes Mal gings's besser, länger, ruhiger - aber auch an schlechten Tagen gibts meist einen Moment, wo etwas glückt, was vorher nicht ging...

Nun - der Stand nach einem Jahr: Es bleibt noch viel zu lernen! Ich kann jetzt zwar längere Strecken fahren, auch leichte Steigungen und Gefälle, aber viele kleine Hindernisse, Strassenübergänge, Randsteine kann ich - oder wage ich - noch nicht zu bezwingen. Von frei Aufsteigen, Pendeln etc. gar nicht zu sprechen. Es wird mir im Sommer nicht langweilig werden!

Zum Thema wagen: Da bin ich sicherlich sehr auf der zaghaften Seite. Das hat ganz bestimmt den Lernfortschritt verlangsamt (es gab ein paar Momente, wo's erst vorwärts ging, als ich endlich ein bisschen forscher probierte). Aber - ich bin bisher kein einziges Mal gestürzt! Das ist mir die Zeit wert, Zeit, in der ich statt schon losfahren zu können, halt vor allem lernte, abzuspringen. Langsam fahren ist schwieriger als schnell – wer sich aber letzteres nicht traut, lernt ersteres halt zuerst. So scheint es mir wenigstens. Es mag ein untypischer Weg sein, so vorsichtig ranzugehen - aber bis dahin (#aufHolzKlopf) hat das für mich gut funktioniert.

Soweit das erste Jahr!

Zum Schluss aus dem Logbuch hier noch die paar Dinge, die ich mir als Erkenntnisse notiert habe, vielleicht nützts auch anderen:

  • Sattel so bald als möglich loslassen. Alles geht wirklich viel besser mit beiden Händen frei!
  • Beim Losfahren ist die erste ganze Umdrehung entscheidend. Ich machte lange den Fehler, die zweite Halbdrehung (anderer Fuss) weniger schnell und forsch wie den Losfahr-Tritt zu machen, und damit die Starts zu verpatzen.
  • Ein Handlauf ist gut zum Starten, anfangs noch zum Entlanggleiten (wenn glatt genug!). Hingegen ganz schlecht: Handlauf (oder auch sonst irgendwas) nach ein paar freien Metern wieder zu fassen versuchen! Dabei war ich am nächsten, mich zu verletzen. Stattdessen immer: weiterfahren oder frühzeitig kontrolliert abspringen.
  • Das Gewicht bewusst auf dem Sattel spüren versuchen, immer wieder, sonst steht man schnell wieder auf den Pedalen und macht die Beine müde.
  • Zeit zum Einsickern lassen. In zwei Pausentagen lernt es sich oft besser als mit zweimal Üben zu kurz hintereinander.

Ich hoffe, dass mein Bericht vielleicht auch andere ebenso untypische Kandidat*innen ermutigt, es mal mit nur einem Rad zu versuchen. Es lohnt sich!


  1. Von einradshop.ch, wo es ausführliche und sehr hilfreiche Beratung per e-mail gab! Danke an Stefan Gauler! 
  2. Dank Beratung von Stefan bin ich bei einem nicht ganz billigen, aber sehr soliden und schönen 24"-Rad gelandet, einem GETitONE Ultimate Cruiser 24". Es wiegt nicht mal 5kg, und hat das erste Jahr tadellos überstanden. Es hat sich auf jeden Fall für mich gelohnt, nicht an der Qualität zu sparen. 

One thought on “Ein Jahr Ein Rad”

  1. Danke für dem Mut – zum Einrad und zum Outen. Verrückterweise ist das Unicycle am ehesten ein psychisches Problem. Gut, natürlich auch eine Funktion von Training. Es braucht halt wie auch sonst bei neuen Bewegungsformen ein kräfteschomendes Management spezieller Muskelpartien und eine weitgehende Automatisierung. Was wiederum etwas Lernzeit braucht. Als ich die ersten Tage frei herumtaumelte, da durfte man mich keinesfalls von der Seite grüßen – sonst wäre ich direkt gestürzt. Später kann man den Körper in der Mitte teilen, oben Zeitung lesen und unten (per Stammhirn, nehne ich an) flüssig weiter treten.

    Der tradeoff ist m.E. auch sonst beachtlich: Psychische und physische Balance sowieso, aber auch das Vorausahnen kommender Katastrophen, das bessere Fallen und eine wohl auch schnellere Reaktion (oder jedenfalls: höhere Wachheit). Das Einrad ist übrigens sehr wintertauglich, etwa auf festem Eis (gut: die Gelegenheiten werden rarer) und das Genialste war für mich einmal die frühe Fahrt über einen noch leeren Seilbahnparkplatz mit ca. 40 cm Neuschnee darauf. Wie auf Wolken!

    Wenn mir jemand heute zuruft: “Sie haben ja ein Rad ab!”, dann antworte ich für gewöhnlich: “Im Alter muss man sparen!”

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